15. atf-Fachtagung 2021
"frei leben lernen - die verlässlichsten Verbündeten auf dem Weg in die Unabhängigkeit"
Editorial
In meiner Pubertät hätte ich mir gewünscht, dass mir jemand erklärt, wie ich mit dem Strudel aus Gedanken, Gefühlen und Verlangen umgehen kann – wie ich zu mir selber finde und es gelingen kann, Zufriedenheit und Sinn zu erleben. Nach einigen Jahren als Psychiater und Psychotherapeut – in der «Expertenrolle» in Sachen Seelenheil – bleiben diese grundlegenden Fragen zum Menschsein immer noch erstaunlich aktuell. Warum eigentlich? Die Medizin und insbesondere die Psychotherapie hat zwar in Teilen die aufgeklärte Nachfolge der Religionen in puncto Lebensorientierung angetreten, bleibt jedoch sehr zurückhaltend mit Halt gebenden Aussagen darüber, was es bedeutet, Mensch zu sein. Der Blick bleibt weitestgehend auf die Störung gerichtet. Das Gesunde und dessen Förderung bleiben erstaunlich vage.
Mich beschleicht der Verdacht, dass wir uns diese Abstinenz in den fundamentalen Fragen des Menschseins im Umgang mit Abhängigkeitserkrankten nicht leisten können. Süchtiges Verhalten graviert sich mittels Belohnungssystem tief in die neuronalen Systeme ein. Das System wurde evolutionär darauf angelegt, überlebenswichtige und arterhaltende Verhaltensweisen sicherzustellen. Abhängigkeitserkrankte Menschen müssen also fehlprogrammierte Überlebensinstinkte übersteuern lernen. Für diese Aufgabe braucht es die stärksten Verbündeten, die wir gewinnen können. Dabei klingen Fragen nach dem Wesen und Potenzial der menschlichen Natur unmittelbar an.
Was brauche ich, um psychisch widerstandsfähig zu bleiben und die Herausforderungen des Lebens zu meistern? Wie finde ich Zugang zu lebendigen Impulsen, die mich auf natürliche Weise organisieren, selbstfür-sorglich meine Bedürfnisse stillen? Wie kann ich meine ureigenen tiefsten und wertvollsten Anliegen an und für das Leben verwirklichen, daraus Kraft schöpfen und Sinn erfahren? Kann ich mich durch die Übung in Meditation tatsächlich von meinen automatisierten, oft «fehlprogrammierten» Mustern befreien? Was bin ich dann, wenn diese Muster, die doch sonst mein Bewusstsein ausfüllen, weggefallen sind?
Ich hoffe, dass wir uns durch die Beiträge der Tagung ermutigt sehen, den Blick von der Störung auf den ganzen Menschen zu weiten, in der Begegnung mit unseren Klient*innen Vertrauen fassen in die gemeinsame Fähigkeit, ganz Mensch zu sein, und an ihrer Seite offen ihr ganzes Potenzial erforschen – und dabei auch unseres.
Dr. med. Alexander Wopfner
Chefarzt Klinik Südhang, Kirchlindach